Myanmar hat lange Zeit im Windschatten der internationalen Aufmerksamkeit gelegen. Das gilt auch für die Erforschung des Landes. Das war für mich ein Segen, denn ich konnte ohne Schwierigkeiten wissenschaftlich bisher unbeackerte Felder entdecken. Eine davon war der Ende 1937 gegründete Nagani Buchclub. Naga-ni heißt Roter Drache. Das nebenstehende Bild zeigt, welche Funktion dem Buchclub von seinen Gründern zugeschrieben wurde: Der Drache (Naga) war der Hammer, mit dem die birmanische Bevölkerung das alte Birma zerschlagen und dann ein neues erbauen wollte. Für diese Aufgabe waren Kenntnisse notwendig - und der Buchclub publizierte solch revolutionäres Wissen.
Zwischen 1938 und 1941 publizierte der Club und ein Schwesterunternehmen an die 100 Bücher. Ein Großteil davon war "rot" (birmansich: ni), also links-sozialistisch und kommunistisch. Es wurden aber auch Romane und ideologisch neutrale Sachbücher veröffentlicht, etwa das erste Buch über sexuelle Aufklärung in birmanischer Sprache. Zahlreiche Bücher sind Übersetzungen aus dem Englischen oder birmanische Adaptionen ausländischer Werke wie die die Liste aller veröffentlichten Bücher zeigt.
Der Club ist in Birma bis heute sehr bekannt und gilt als der Beginn intellektuellen politschen Denkens in Birma. Seine Gründer war der erste birmanische Ministerpräsident Nu. Andere Gründungsmitglieder waren nach der Unabhängigkeit in führenden Positionen politisch tätig. Der prominenteste Autor war Aung San, der Unabhängigkeisheld.
Der Club wurde durch einen Song bekannt gemacht, der von Khin Maung Yin, einem bekannten Schauspieler und Sänger gesungen wurde, und der bis heute populär ist. Der Text ist eine interessante Mischung aus birmanischer Tradition und Moderne.
Dies Bild wurde 2008 auf einem der bekanntesten Märkte Yangons aufgenommen, der immer noch unter dem Namen Scott Market bekannt ist, den ihm die Briten in der Kolonialzeit gaben. Auf birmanische trägt er wie die Straße, an der er liegt, den Namen des Unabhängikeitshelden Bogyoke (General) Aung San. Der Laden mit der Nummer 151 des Westflügels ist der Ort, an dem der Nagani Buchclub gegründet wurde. Was sich da heute befindet, ist nicht klar. Der Markt hat sich stark verändert.
Der alte Herr auf dem Bild ist Thakin Hla Kun. Er wurde durch die Lektüre von Nagani Büchern zum Kommunisten, kam als junger Mann ins Gefängnis und lebte dann nach dem Krieg viele Jahre mit der kommunistischen Partei im Dschungel, bis er die Rebellen verließ und als Journalist in Birma arbeitete. Mehr zu seiner abenteuerlichen Geschichte findet sich im ersten Working Paper, das ich über den Buchclub herausgegeben habe. Die Texte aller Working Paper sind in der Online Burma Library zu finden.
Der alte Herr war dann auch der älteste der etwa gut 100 Mitarbeiter aus Birma und Deutschland, die bisher an dem Projekt beteiligt waren. Er hat Besprechungen einzelnen Bücher aus dem Birmanischen ins Englische übersetzt und zu einigen Themen etwas aus seinen Erinnerungen beigetragen.
Ein Ziel des Projektes ist es, die Tätigkeit des Buchclubs in englischer Sprache zu dokumentieren und damit eine Grundlage für eine Erforschung der Geschichte politischer Ideen in Myanmar zu legen. Zudem war ich sehr daran interessiert herauszufinden, was man in Birma vor dem Zweiten Weltkrieg über Deutschland im Allgemeinen und Hitler im Besonderen dachte. Der Club veröffentlichte zu diesem Thema allein acht Bücher - unter ihnen einen historischen Roman, der vom britischen Gemeindienst finanziert wurde, um der Beliebtheit des nationalsozialistischen Deutschland im Lande entgegen zu wirken.
Mittlerweie sind insgesamt über 20 Working Paper ins Netz gestellt worden. An der Auswertung hapert es noch, unter anderem deshalb, weil es bisher schwierig war, mit Wissenschaftlern und Intellektuellen aus Myanmar öffentlich über Themen zu diskutieren, die als "politisch" eingestuft werden können. Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändert.
Bisher ist gut die Hälfte der damals publizierten Bücher ansatzweise dokumentiert. Es hat sich herausgestellt, dass ein Großteil von ihnen auf englischsprachige Vorlagen beruht, von denen die meisten mittlerweile bekannt sind. Was noch fehlt, ist ein gründlicher Vergleich zwischen den Originalen und den birmanischen Adaptionen. Aussolchen Vergleichen ließen sich Schlüsse für die Beantwortung der Frage ableiten, wie Ideen aus der internationalen Welt in den sprachlichen, kulturellen und politischen Kontext übertragen wurden - und werden.
Als Beispiel für diese Übersetzungsproblematik lässt sich das erste Lehrbuch des Sozialismus anführen, das von einem Mitbegründer des Buchclubs und späterem Führer der kleineren von zwei kommunistischen Parteien Birmas, Thakin Soe (1906-1989), geschrieben wurde. Der Herausgeber des Bandes, der spätere Führer der größeren kommunistischen Partei Birmas und Schwager Aung Sans, Thakin Than Tun, schrieb in seinem Vorwort, dass der erklärte Atheist SO viele buddhistische Bücher lesen musste, um seinen birmanischen Lesern den dialektischen Materialismus zu erklären. Er benutzt dann in seinem Buch auch eine Menge dieser traditionellen Begriffe und stellt sie in einen neuen Kontext.
Daraus lässt sich leicht ableiten, dass unter "Sozialismus" in Birma etwas anderes verstanden wurde als im Westen. Das lässt sich auch an den beiden Männdern ablesen, die dann das Geschick Birmas von der Unabhängigkeit Birmas im Jahr 1948 bis zum Volksaufstand 1988 bestimmten. Nu war ein frommer traditioneller Buddhist, der einen Art buddhistischen Wohlfahrtsstaat zu begründen versuchte, in dem die Menschen sich der Religion zuwenden konnten, was sie keine materiellen Sorgen zu haben brauchten. Sein Nachfolger Ne Win ließ dann als Grundlage für eine sozialistische Einheitspartei ein philosophisches Programm entwerfen, in dem das buddhistische Prinzip der Unbeständigkeit (anicca) mit sozialistischen Ideen verbunden wurde. Ziel war das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Nach 1988 schließlich wandten sich die regierenden Militärs wieder der traditionellen Rolle des Buddhismus als einer Legitimation von Herrschaft zu, Aung San Suu Kyi hingegen berief sich ebenfalls auf die buddhistischen Schriften, um die birmanischen Wurzeln von Demokratie zu erklären.